In Hinterfragung der Schweigehypothese nach Noelle-Neumann (1974) konnte die Wissenschaft in den vergangenen Jahren zahlreiche Faktoren der Meinungsäußerungsbereitschaft ausmachen. Obwohl in der Literatur Hinweise darauf zu finden sind, dass die Bereitschaft, seine politische Meinung offen zu äußern auch mit unmittelbar situationsbezogenen Erwartungen in Zusammenhang steht (Neuwirth, 2000), analysieren nur wenige Wissenschaftler explizit situationsabhängige Einflussfaktoren. Argumentativer Ausgangspunkt der hier präsentierten Arbeit ist, dass es im Entscheidungsprozess zur Meinungsäußerung auch auf die Erwartung von Gratifikationen und Sanktionen ankommt – und dass diese in Abhängigkeit der Kommunikationssituation unterschiedlich ausfallen kann. Überprüft wird dies anhand einer konkreten, thematisch geprägten Situation eines rechtspolitischen Meinungsklimas. Dabei wird zwei zentralen Forschungsfragen nachgegangen: Erstens wird ins Auge gefasst, welche Faktoren die Bereitschaft zur Meinungsäußerung in einer Situation mit vorherrschend rechtspolitischem Meinungsklima beeinflussen; zweitens wird danach gefragt, ob bestimmte Gratifikations- und Sanktionsfaktoren durch Befragte situativ unterschiedlich eingeschätzt werden, je nachdem, ob sie sich in einer Situation mit vorherrschend rechtspopulistischem oder rechtsextremistischem Meinungsklima befinden. Angenommen wird, dass die Extreme der kommunizierten Meinung einen Einfluss auf die Evaluation von Gratifikationen und Sanktionen einer Meinungsäußerung nimmt – und auch Folgen in Hinblick auf die Meinungsäußerungsbereitschaft werden überprüft.
Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde eine Online-Befragung mit experimentellem Stimulus durchgeführt. Dabei wurde die Extreme der kommunizierten Meinung, basierend auf wissenschaftlicher Literatur zu Kennzeichen rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Kommunikation, variiert und eine Konfrontation mit rechtspopulistischen oder -extremistischen Aussagen zum Thema Islam in Deutschland skizziert.
Analyseergebnisse zeigen, dass sich die situationsbezogene Erwartung von Gratifikationen und Sanktionen in Konfrontationssituationen mit politisch rechten Inhalten als überaus relevant und gegenüber klassischen Erklärungsfaktoren der Meinungsäußerungsbereitschaft als äußerst robust erwiesen hat – und die Entscheidung der Meinungsäußerung somit nachhaltig beeinflusst. Unterschiede hinsichtlich Gratifikations- und Sanktionserwartungen konnten im Kontext zweier Sanktionsfaktoren ausgemacht werden: Sowohl die Erwartung, persönlich angriffen zu werden als auch einem Konflikt ausgeliefert zu sein, nimmt mit der Extreme der Kommunikation zu. Daher ist nicht unerheblich, mit welcher politischen Meinung Personen konfrontiert werden und wie diese kommuniziert wird. Dabei lassen die empirischen Erkenntnisse in Überprüfung unterschiedlicher Meinungsäußerungsbereitschaft jedoch nicht erkennen, dass sich die unterschiedliche Sanktionserwartung auch auf Handlungsebene niederschlägt.