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Soziale Bewegungen zwischen Unbedeutsamkeit und Establishment?

Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse der grenzüberschreitenden Initiative „Stop Tihange“

Die umstrittene Atomenergie steht als Auslöser überregionalen Protests im Fokus der Masterarbeit. Konkreter Gegenstand sind Initiativen und Gruppierungen, die sich unter dem Namen „Stop Tihange“ im deutsch-belgischen Grenzgebiet gegen zwei störanfällige Kernkraftwerke positionieren. Sie bieten sich aufgrund ihres grenzüberschreitenden Mobilisierens für eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtung an. Den Rahmen bildet die Bewegungsforschung.

Untersucht wird, inwiefern die Bewegung Defizite ihrer losen Strukturen durch kommunikative Mittel zu kompensieren versucht. Laut Fachliteratur gerate eine Bewegung, die laut Definition in ihrem Kern machtkritischen Bestrebungen folgt, beim Versuch, vor allem machtpolitisch relevante Nachteile gegenüber Organisationen kommunikativ auszugleichen, notwendigerweise in eine ideologische Krise. Sie agiere basisdemokratisch, dezentral und ohne Hierarchien, um ihrer Ablehnung des etablierten Herrschenden Ausdruck zu verleihen, während NGOs hingegen eben diese Machtstrukturen selbst aufbauen würden, indem sie Rollenverteilungen vornehmen, Expert*innen einstellen, sich professionalisieren und in ein System aus Institutionen fügen. Damit distanzierten sich NGOs von der Basis. An die Stelle ehrenamtlichen, risikoreichen, Konflikt bergenden Protests würden Abhängigkeiten von Beziehungen zu Politik und Geldgebern sowie auf Harmonie und Selbsterhalt bedachtes Organisationshandeln treten. Gewissermaßen würden NGOs durch ihr strategisches Handeln das ideologische Ziel der bedingungslosen Opposition verraten.

Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Transnationalisierung von Politik, so wird argumentiert, können es sich soziale Bewegungen nicht mehr leisten, nur innerhalb persönlicher sozialer Netzwerke auf lokaler Ebene zu agieren. Um handlungs- und mobilisierungsfähig zu sein, müssten sie sich wie NGOs formalisieren und ausstrukturieren.

Inwiefern das für „Stop Tihange“ gilt, wird folgendermaßen überprüft: Vorhandenes Informationsmaterial wird analysiert und das ermittelte Wissen nach Philipp Mayring durch die qualitative Inhaltsanalyse semistrukturierter Leitfadeninterviews mit Expert*innen (Bewegungsmitgliedern) ergänzt. Erörtert werden die für Bewegungen typischerweise stark verständigungsorientierte Binnenkommunikation und die für NGOs bedeutsame strategische Außenkommunikation.

Die Analyse legt nahe, dass NGOs tatsächlich als trans- und multinationale Bewegungsorganisationen bezeichnet werden, die Begriffe Bewegung und Organisation demnach zusammen, statt zueinander konträr gedacht werden können. Die Professionalisierung – im engsten Wortsinn als Profession verstanden –, lehnt „Stop Tihange“ strikt ab. Die Bewegung erkennt darin ihre bedeutendste Abgrenzung zu NGOs. Ein Selbstverständnis, das auf dem Ehrenamt beruht und von keinerlei ökonomischen Faktoren abhängt, mache ihren Erfolg aus. Abgesehen davon wird die theoretisch angedachte und in den Mittelpunkt gestellte strikte Entgegensetzung zu NGOs allerdings so nicht praktiziert. Die Bedingungen, die die Globalisierung mit sich bringt, sind vielmehr als unumgänglich und als notwendiger Grund zur Anpassung anzusehen.