Noelle-Neumann begreift öffentliche Meinung als sozialpsychologisches Phänomen sozialer Kontrolle, das zu allen Zeiten bei allen Völkern existiert. Diese interdisziplinäre Literaturstudie untersucht, ob sich Spuren öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle auch zur Zeit des Mittelalters finden lassen. Dazu werden mit Hilfe einer hermeneutischen Textanalyse ausgewählte mittelhochdeutsche Minnelieder exemplarisch untersucht. Die Analyse zeigt, dass ein Bewusstsein von öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle im Mittelalter durchaus existierte. Spuren öffentlicher Meinung sind in der mittelalterlichen Liebeslyrik u.a. in der Thematisierung folgender Aspekte erkennbar: Zum einen werden dort Themen wie êre (Ehre) und spot (Spott) behandelt. Die öffentliche Verspottung stellt eine Isolationsdrohung gegen Individuen dar, die sich abweichend zur öffentlichen Meinung verhalten. Da eine Verspottung zu Ehrverlust und sozialer Isolation führen kann, übt der Spott einen Konformitätsdruck auf die sich deviant Verhaltenden aus. Darüber hinaus werden in der Minnelyrik die huote (Aufsicht) und die merkaere (Aufpasser) thematisiert. Beide können als eine Form sozialer Kontrolle angesehen werden. Die huote bezeichnet eine gesellschaftliche Aufsicht höfischer Damen und Werte, die merkaere diejenigen Personen, die diese Aufsicht ausüben und das Verhalten anderer kontrollieren. Sie sind Repräsentanten/Vertreter der öffentlichen Meinung, die dafür sorgen, dass gegen diese nicht verstoßen wird.
Öffentliche Meinung im mittelhochdeutschen Minnesang
Sozialwissenschaftliche Theorie trifft mittelalterliche Lyrik - eine interdisziplinäre Literaturstudie