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Die Entwicklung der Darstellung von TäterInnen, Opfern und der Frage nach Schuld in der Gerichtsreportage

Eine qualitative Inhaltsanalyse deutscher Printmedien

Die Art und Weise, wie Journalist*innen über Verbrechen und Gerichtsprozesse berichten, zeichnet ein aufschlussreiches Bild davon, welche Rolle Täter*innen, Opfer und die Frage nach Schuld in der Gesellschaft spielen. Diese Darstellung hat sich im Laufe der Zeit verändert und offenbart einen gesellschaftlichen Wandel von Werten und Normen. Ziel dieser Arbeit ist es, diesen Wandel anhand von Gerichtsreportagen zu analysieren, um so Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Betrachtung von Verbrechen und die journalistische Praxis zu ziehen.

Als theoretisches Konstrukt hinter der Analyse stehen die Entwicklung der Gerichtsreportage von der Flugschriftensammlung zu Gesellschaftskritik, der Wertewandel – vor allem die Ansätze von Noelle-Neumann – sowie das Framing als Einordnung von sozialer Realität nach Entman und Matthes. Analysiert wurden insgesamt 40 Gerichtsreportagen, die innerhalb von zwei Untersuchungszeiträumen (1980-1989 und 2010-2020) im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL und der Tageszeitung Süddeutsche Zeitung erschienen. Methodisch wurde sowohl deduktiv als auch induktiv gearbeitet, um die Veränderung zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen anschaulich darstellen zu können: Zunächst wurden Hypothesen zu den Untersuchungsgegenständen Täter*innen- und Opferdarstellung sowie der Frage nach Schuld in der Gerichtsreportage aus der vorhandenen Forschungsliteratur formuliert. Anschließend wurden diese Hypothesen durch induktiv erschlossene Kategorien aus der Inhaltsanalyse erweitert.

Zentrale Ergebnisse dieser Analyse sind, dass sich die Gerichtsreportage innerhalb der beiden Bearbeitungszeiträume wenig verändert hat: Sie war und ist eine Hybridform zwischen Unterhaltung, Informationsvermittlung sowie Gesellschafts- und Justizkritik. Auch bei der Darstellung der Täter*innen hat sich wenig getan: Die Täter*innen stehen stets klar im Fokus der Berichterstattung, sie werden viktimisiert und zum Opfer ihrer Umstände (erster Zeitraum) oder ihrer Psyche (zweiter Zeitraum) gemacht. Die Opfer bleiben Nebensache, ihr Leid wird auch in den aktuellsten Reportagen nur vereinzelt respektvoll dargestellt. Die Schuldfrage wandelt sich zur Wertfrage – der Determinismus, dem sich Täter*innen erst unterworfen sehen wird nun von der Einforderung nach Reue und Mitleid abgelöst.

Diese und weitere Ergebnisse sowie konkrete Handlungsempfehlungen für Gerichtsreporter*innen werden in der Arbeit dargestellt und bieten damit eine Grundlage für weitere Forschung in diesem Bereich, etwa wie dasselbe Verbrechen von unterschiedlichen Medien dargestellt wird. Diese Untersuchung ließe Rückschlüsse auf die Agenda verschiedener Medienhäuser und deren Berichterstattungskodex zu.