Die Situation der muslimischen Minderheit in Deutschland gleicht noch immer einer Black Box. Mit der zentralen Forschungsfrage „Wie orientieren sich Muslim*innen in der Minderheitssituation religiös?“ werden in der Masterarbeit die Unterfragen wer die religiösen Orientierungspunkte für Muslim*innen in der Minderheitssituation sind und warum sie sich an diesen religiös orientieren bearbeitet. Damit wird ein Beitrag zu einem besseren wissenschaftlichen Verständnis über die internen Dynamiken des muslimischen Lebens in Deutschland geleistet und die kommunikationswissenschaftliche Meinungsführerschaftsforschung erweitert.
Die Meinungsführerschaftsforschung und die Anführerschaftsforschung bilden den theoretischen Bezugsrahmen der vorliegenden Studie. Es wird von einem breiten Verständnis von Meinungsführerschaft („opinion leadership“) Gebrauch gemacht. Der zusätzliche Miteinbezug der Forschung zu religiöser Anführerschaft („religious leadership“) erlaubt Aufschluss zu den Themenbereichen Religion und Minderheitengruppen zu gewinnen.
Methodisch stellt diese empirische Arbeit die Perspektive der Muslim*innen selbst und ihre subjektiven Meinungsführerschaftszuschreibungen als Meinungsfolgende in den Mittelpunkt. Dafür fand die Datenerhebung in Form von qualitativen Leitfadeninterviews statt, die mit acht türkeistämmigen hannafitisch-sunnitischen Muslim*innen jüngeren Alters durchgeführt wurden. Methodisch werden einige Regeln der Grounded Theory Methode angewandt.
Die Auswertung ergibt vier Thesen über die religiöse Orientierung in der muslimischen Minderheitssituation. Die These 1, dass religiöse Orientierungspunkte wissende Meinungsführende sind, und die These 2, dass die Rolle religiöser Orientierungspunkte durch die soziale Beziehung zu ihnen bestimmt wird, beziehen sich auf zwei zentrale Gründe der Meinungsführerschaftszuschreibung. Die muslimische Minderheitssituation bedingt außerdem, dass der Kontext der nicht-muslimischen Gesellschaft die religiöse Orientierung auf besondere Weise prägt (These 3). Antworteinforderungen von Nicht-Muslim*innen, individuelle und strukturelle Diskriminierungen sowie Defizite von Moscheeorganisationen und Eltern als traditionelle religiöse Orientierungspunkte erhöhen den Bedarf nach kompetenten und identitätsstiftenden Meinungsführenden. In These 4 wird entsprechend des verschiedenen Umgangs mit dem nicht-muslimischen Kontext eine Typologie der religiösen Orientierung in der muslimischen Minderheitssituation aufgestellt. Nach dieser lassen sich die untersuchten Muslim*innen je nach ihrer Nähe zu traditionellen religiösen Orientierungspunkten oder Medien auf dem Kontinuum Individualismus und Autoritätsorientierung zuordnen. So ergeben sich die vier Typen isolierte und vernetzte Individualist*innen sowie medienaffine und medienskeptische Traditionalist*innen. Auf diese Weise werden die Vielschichtigkeit und Komplexität der religiösen Orientierung von Muslim*innen in Deutschland herausgearbeitet.