Die vorliegende Arbeit untersucht die Positionierung der serbischen Presse im Ukrainekrieg und wie sie Serbien in Bezug auf das historische Dilemma zwischen Ost und West verortet. Der theoretische Rahmen basiert auf Konstruktivismus und der Theorie des Othering, bei dem durch Stereotypisierung eine Identitätskonstruktion stattfindet. Serbien, geografisch und historisch zwischen Ost und West gelegen, definiert seine Identität durch Abgrenzung zu beiden Polen. Das stellt insofern eine Besonderheit dar, da zur Identitätskonstruktion üblicherweise lediglich ein Other herangezogen wird und sich die serbische Identität von zwei Other abgrenzt, einem „östlichen“ und einem „westlichen“. Die Identitätskonstruktion basiert wiederum auf der Konstruktion von Wirklichkeit, die im medialen Kontext geschieht, insbesondere durch Sprache und Diskurs.
Aus diesem Grund werden drei serbische Tageszeitungen mit unterschiedlichen politischen Redaktionslinien durch eine qualitative Inhaltsanalyse auf ihre Berichterstattung zu fünf Schlüsselmomenten des Ukrainekriegs untersucht. Insgesamt fließen je Zeitung 27 Artikel in die Analyse (N=81). Die Analyse untersucht die sprachlichen Gestaltungsmittel, mithilfe derer die untersuchten Tageszeitungen Othering ausüben und dadurch ein Konstruktionsangebot für die serbische Identität produzieren. Die qualitative Inhaltsanalyse folgt auf ein ausführliches Kontextkapitel, welches historische Ereignisse beschreibt, die Einfluss auf das kollektive Gedächtnis und das Selbstverständnis Serbiens haben und die ambivalente Beziehung zu Ost und West beeinflussen.
Die Analyse zeigt, dass Serbien sowohl den Westen als auch den Osten als Other betrachtet, ohne sich zu einer Seite zugehörig zu fühlen. Dies spiegelt sich in stereotypisierten Darstellungen beider Other wider, die durch historische Bezüge verstärkt werden. Die Presse bedient sich an einem Archiv historischer Ereignisse wie dem Zweiten Weltkrieg oder dem NATO-Bombardement Jugoslawiens, um sowohl den westlichen als auch den östlichen Other negativ zu charakterisieren, während sich das serbische Selbstbild durch die Zuschreibung positiver Eigenschaften auszeichnet. Zusätzlich wird eine Spaltung innerhalb der serbischen Gesellschaft und Politik sichtbar, die sich in pro-westliche und pro-östliche Lager aufteilt. Insgesamt zeigt die Analyse, dass Serbien sich weder vollständig dem Osten noch dem Westen zuordnet, sondern sich als Brücke zwischen beiden versteht, geprägt von einer ambivalenten Identität und einer komplexen geopolitischen Positionierung.