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Wie gewiss sind Politiknachrichten? – Eine diachrone Kontingenzanalyse der innenpolitischen Berichterstattung von Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung zu den Bundestagswahlen 1998, 2009 und 2017.

Angesichts des Spannungsfelds zwischen normativem Qualitätsanspruch und ökonomischen Restriktionen der Medien und dem damit verknüpften Einfluss der Öffentlichkeitsarbeit rückt diese Forschungsarbeit das Verhältnis von Public Relations und Journalismus in den Mittelpunkt. Basierend auf dem innovativen Forschungsansatz von Theis-Berglmair und Kellermann, wonach sich PR-Texte von journalistischen Texten im linguistischen Textmerkmal der Kontingenz unterscheiden, eruiert diese Arbeit, inwieweit die Kontingenzausprägung in der innenpolitischen Wahlberichterstattung zu den Bundestagswahlen 1998, 2009 und 2017 von Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung zwischen latenter und finaler Wahlkampfphase sowie im diachronen Vergleich differiert. Für die kontingenzbezogene Textanalyse wird das theoretische Konstrukt der semantischen Felder und Gewissheitsgrade von Baeriswyl weiterentwickelt: Die Kontingenzwerte werden anhand der Kategorien (Un)Bestimmbare Instanz, Perspektive, Gewissheitsbewertung und Anzahl der referierten Instanzen ermittelt. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass der Ungewissheitsgrad journalistischer Artikel durch die vermehrte Übernahme von PR-Texten in die Berichterstattung kontinuierlich sinkt.
Im Rahmen einer vergleichenden Inhaltsanalyse werden insgesamt 9.413 Analyseeinheiten aus 197 journalistische Beiträge auf das Textmerkmal der Kontingenz untersucht. Im diachronen Verlauf kann eine Reduktion des Ungewissheitsgrads zwischen den Bundestagswahlen 1998 und 2007 attestiert werden, welche sich allerdings nicht bis zur Bundestagswahl 2017 fortsetzt. Bei der Betrachtung der Kontingenzwerte nach Wahlkampfphase ergibt sich folgendes Bild: Die innenpolitische Wahlkampfberichterstattung fällt im weiten Vorfeld der Bundestagswahl ungewisser aus als in der finalen Wahlkampfphase. Zudem können intermediale Diskrepanzen im Einsatz von Kontingenz nachgewiesen werden. Alle Erkenntnisse verifizieren folglich die Grundannahme, dass Kontingenz ein höchst dynamisches Textmerkmal abbildet, das durch systemimmanente sowie exogene Entwicklungstendenzen tangiert wird.