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Fallstricke der sogenannten Cancel Culture

Eine kommunikationswissenschaftliche Einordnung und Begriffsbestimmung

Über vermeintliche Ausprägungen und Folgen einer grassierenden Cancel Culture wird in Deutschland seit 2019 immer wieder diskutiert. In der Regel wird darüber Kritik an internetvermittelten Diskursen geäußert, welche einen Ausschluss zur Folge haben. Verfechter:innen des Begriffs prädizieren aufgrund der Cancel Culture das Ende der Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Gegner:innen halten ihn für eine Abwehrstrategie gegen Errungenschaften sozialer Bewegungen.

Der Begriff Cancel Culture ist ideologisch geprägt, das schlägt sich auch in wissenschaftlichen Beiträgen nieder. Eine Bedeutungsanalyse zeigt, dass Cancel Culture in erster Linie ein Meta-Begriff ist, dem ein anderes Phänomen zugrunde liegt: der Call-Out. Allerdings sind die Definitionen dieser spontanen Sanktionierungskollektive selbst in der empirischen Forschung nicht theoriegeleitet entwickelt worden. Bei der Systematisierung des aktuellen Forschungsstandes zeigt sich, dass Kriterien von Call-Outs weder einheitlich noch kohärent sind. Dieses Theoriedefizit soll in der vorliegenden Arbeit anhand einer explikativen Herleitung behoben werden.

Dazu werden Kriterien von Theorien öffentlicher Kommunikation, soziologischer Normen und des Affordanzkonzeptes zur Beschreibung digitaler Medien deduziert, welche in der Explikation des neuen Begriffes „Netzwerköffentlichkeit sozialer Regulation“ (NsR) münden. Davon ausgehend wird eine NsR als Ad-hoc-Netzwerk derjenigen definiert, die ein Verhalten, eine Handlung oder einen Inhalt als Normverstoß auffassen, Frames in einem affektiv-konversierendem Prozess entwickeln und darüber Devianz sanktionieren – mit der Möglichkeit medienübergreifenden Agenda-Settings.

Im Gegensatz zum Call-Out ist eine NsR theoriegeleitet entwickelt und trennscharf. An Fallbeispielen wird zudem gezeigt, dass der NsR-Begriff, anders als Cancel Culture, nicht ideologisch geprägt ist, sondern auf kommunikations- und öffentlichkeitstheoretisch wesentliche Prozesse fokussiert. Insofern können empirische Untersuchungen auf der operationalisierten Definition von NsR aufbauen.