Gefragt wird nach dem Berlin-Bild in dem für 1933 geplanten, erst 1964 erschienenen Buch „Straßen in Berlin und anderswo“, worin Siegfried Kracauer von ihm 1921-1933 für das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ geschriebene Prosaminiaturen über öffentliche Räume in europäischen Städten, zusammengestellt hat. 31 der insgesamt 52 Texte gelten Berlin; fünf von ihnen wurden hier einem close reading unterzogen: „Straße ohne Erinnerung“, „Schreie auf der Straße“; „Lokomotive über der Friedrichstraße“, „Die Unterführung“ und „Aus dem Fenster gesehen“. Es sind anthropologisch-literarische Chroniken der laufenden Gegenwart, die letztlich einer Zivilisierung und Humanisierung der Gesellschaft dienen wollen.
Die Bedeutung scheinbar unbedeutender Menschen, Dinge und Räume sowie ihre Stellung im gesellschaftlichen Zusammenhang durch genaues Hinschauen und Hinhören herauszuarbeiten war Kracauers Methode der Wirklichkeitserkundung. Was an Systematik und Methodik fehlt, wird durch die Vielzahl der dargestellten Wirklichkeitsausschnitte und Perspektiven wettgemacht, so dass ein fragmentarisches, anschauliches, suggestives Mosaik der Wirklichkeit einer Weltstadt entsteht. Dabei geht es ihm nicht nur um Berlin, Berlin ist Metonymie und Metapher der Moderne, des sozialen Wandels, der Beschleunigung und des Gedächtnisverlustes der Lebenswelten, der Konjunkturschwankungen des Kapitalismus, ein Barometer politischer Stimmungen, zivilisatorischer und barbarischer Tendenzen.
Ein Außenseiter macht Berlin bemerkbar
Prosaminiaturen von Siegfried Kracauer