Die Freiheit der Meinungsäußerung ist fest in unserer Verfassung verankert und gilt als einer der elementarsten Bestandteile des Selbstverständnisses unserer demokratischen Gesellschaft. Rein konstitutiv hat sich an dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit in Deutschland auch nichts geändert. Und trotzdem entfachte im Oktober 2019 eine Debatte um das Recht auf freie Meinungsäußerung im Land. Anlass war die geplante Antrittsvorlesung des Professors und ehemaligen AfD- Politikers Bernd Lucke an der Universität Hamburg, die er aufgrund von massiven Protesten von vormalig linken Studierenden letztendlich abbrechen musste. In der Folge entbrannte eine hitzige Debatte in der Öffentlichkeit. Unterschiedliche Akteure – darunter auch viele Politiker – stritten darüber, ob die Geschehnisse Ausdruck einer nicht mehr gewährleisteten Meinungsfreiheit in Deutschland seien und nutzten den Begriff als Kampfbegriff für ihre eigene politische Agenda.
Ziel der Untersuchung ist es, den öffentlichen Diskurs um die Meinungsfreiheit empirisch zu analysieren. Von Interesse sind dabei insbesondere die politischen Spektren der beteiligten Akteure, die spezifischen Kontexte, in denen der Begriff der Meinungsfreiheit genannt wird und die damit verbundenen Framingstrategien. Da dies unabhängig von massenmedialen Vermittlungslogiken beleuchtet werden soll, wird die Plattform Twitter als Ort der direkten Kommunikation für die Studie ausgewählt.
Als theoretische Basis werden Konzepte von Öffentlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie in Bezug gesetzt und das theoretische Konfliktpotential der Meinungsfreiheit in der Öffentlichkeit abgeleitet: Der hohe normative Wert der Meinungsfreiheit und die gleichzeitig empfundene Nicht-Erfüllung dieses Grundrechts bieten theoretisch den nötigen Resonanzboden für einen gesellschaftlichen Konflikt, der ein hohes Potential hat, zur politischen Einflussnahme gegen bestehende demokratische Institutionen und politische Gegner genutzt zu werden.
Mittels einer Inhaltsanalyse werden insgesamt 442 Tweets von Politikern, Parteien, öffentlichen Institutionen, politischen Bewegungen, Vereinen, Organisationen sowie „normalen“ Bürgern zum Thema Meinungsfreiheit im Hinblick auf Kontext und Framingstrategien analysiert. Als Ausgangspunkt der Untersuchung wird die Debatte um Bernd Lucke gewählt und als Untersuchungszeitraum der 20.-22.Oktober 2019 definiert. Um auch Erkenntnisse zu einem Diskurs zu gewinnen, der nicht geprägt von den Ereignissen um Lucke ist, werden zum Vergleich die Zeiträume 20.-22. September und 20.-22. November desselben Jahres analysiert.
Die Ergebnisse zeigen, dass der Diskurs von rechtspopulistischen Akteuren der institutionellen Politik dominiert wird, die den Begriff der Demokratie als dominanten Kontext gebrauchen. Darauf beziehen sie sich besonders bei der Diffarmierung der „Linken“, die sie beschuldigen, abweichende Meinungen nicht zuzulassen. Die Presse wird als Institution der Demokratie außerdem gezielt diskreditiert und als Komplize der Linken bezeichnet. In der Gruppe der linkspopulistischen Akteure werden die Rechten beschuldigt, die Grenzen der Meinungsfreiheit nicht zu achten und den Begriff für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Es ist also eine klare Positionierung entlag eines ideologischen Links-Rechts-Schemas zu erkennen, in der die Akteure vor allem gegenseitige Schuldzuweisungen äußern. Es zeigt sich: Besonders die rechtspopulistischen Akteure instrumentalisieren den Begriff, um demokratische Institutionen und politische Gegner zu delegitimieren und nutzen Twitter als unmittelbare Kommunikationsplattform für diese Agenda.